EU-Experten warnen: Abhängigkeit von Microsoft gefährdet die digitale Souveränität

Forscher, IT-Spezialisten und Politiker schlagen laut dem Rechercheteam "Investigate Europe" Alarm: Die öffentliche Verwaltung Europas werde immer abhängiger von Microsoft, was die Cybersicherheit und Innovation gefährde.

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EU-Experten warnen: Abhängigkeit von Microsoft gefährdet die digitale Souveränität

Blick in Microsofts Niederlassung in Dublin. Von hier aus steuert das Unternehmen sein Europageschäft.

(Bild: Naoise Culhanse)

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Die EU will mit dem geplanten digitalen Binnenmarkt hoch hinaus, wird dabei aber immer abhängiger von der Informationstechnik und zugleich insbesondere von Microsoft. Dies habe gravierende Konsequenzen, berichten Partner des Recherchenetzwerks "Investigate Europe" wie hierzulande der Tagesspiegel auf Basis einer aktuellen Untersuchung. Gefährdet werde mit dem Hang zur IT-Monokultur des US-Softwareriesen nicht weniger als die "digitale Souveränität" Europas.

Die IT-Landschaft der öffentlichen Hand in Europa basiere fast ausschließlich auf Microsoft-Programmen, schreibt das Journalistenteam. Es gebe nur "Inseln" mit freier Software, die zudem ständig unter massivem Rechtfertigungs- und Lobbydruck der Microsoft-Fraktion stünden. Angesichts der wachsenden Bedeutung der digitalen Technik seien innerhalb von drei Monaten Ökonomen, Informatiker, IT-Manager, Sicherheitsexperten und Politiker von zwölf europäischen Ländern sowie Vertreter der EU-Kommission und des Parlaments zu diesem Thema befragt worden, was zu "alarmierenden Ergebnissen" geführt habe.

Die wachsende Abhängigkeit von Microsoft führe nicht nur zu ständig steigenden Kosten für die Steuerzahler, sondern blockiere auch den technischen Fortschritt in Behörden und anderen Regierungseinrichtungen. Die dort betriebenen IT-Systeme und die darin enthaltenen persönlichen Informationen der Bürger würden damit einem "hohen Risiko" ausgesetzt, sowohl technisch als auch politisch.

Die Redmonder gewännen "einen überwältigenden politischen Einfluss", der in persönlichen Abhängigkeiten sowie der "Durchdringung von Schulen und Universitäten" kulminiere, heißt es in der Analyse. Schüler und Lehrer erhielten Microsoft-Produkte zumeist kostenlos. Nach der Ausbildung, so das Kalkül, zahlten sie für den Rest ihres Lebens Lizenzgebühren. Das sei "das klassische Drogendealer-Modell", urteilt Rufus Pollock vom Zentrum für Informationsrecht der Universität Cambridge. Auch werde das europäische Beschaffungs- und Wettbewerbsrecht "systematisch untergraben".

Konkret zitiert der Tagesspiegel den früheren IT-Direktor im Bundesinnenministerium, Martin Schallbruch, mit der Warnung, dass viele staatliche Verwaltungen gar "nicht mehr die Wahl haben, welche Software sie nutzen wollen". Laut dem Manager der privaten European School of Management and Technology (ESMT) könnten die EU-Staaten die Kontrolle über ihre eigene IT-Infrastruktur verlieren.

Michael Waidner, Direktor des Fraunhofer-Instituts für sichere Informationstechnik (SIT), erklärt in dem Bericht den Zugang zum Quellcode von Software für unverzichtbar. Sonst gebe es "keine digitale Souveränität". Verantwortliche gerade "in sicherheitsempfindlichen Sektoren" müssten in der Lage sein zu testen, "ob Hardware und Software ihrer Informationstechnik nur das tun, was sie sollen und nichts sonst".

Insbesondere die Bürosoftware von Microsoft und die damit hergestellten Dateien sind laut dem Bundesamt für Sicherheit in der Informationstechnik (BSI) "das wichtigste Einfallstor für Cyberattacken" auch in Parlamenten wie dem Bundestag, ist weiter nachzulesen. Zwar habe der Konzern etwa in Brüssel ein "Transparenzzentrum" eingerichtet, wo Regierungsvertretern Einsicht in Codeteile geboten wird. Das deutsche BSI lehnt dieses Angebot aber als unzureichend ab.

Das technische Risiko gehe Hand in Hand mit einer politischen Gefahr, meint der grüne EU-Abgeordnete Jan Philipp Albrecht. Washington könne Microsoft jederzeit zwingen, US-Behörden Zugang zu den Daten ausländischer Verwaltungen oder Bürger zu verschaffen. Der Verhandlungsführer rund um die EU-Datenschutzreform hält so den Einsatz von Microsoft-Produkten in staatlichen Institutionen "mit dem Rechtsstaat nicht mehr für vereinbar". Er fordert stattdessen, Open Source bei Standardsoftware zur Pflicht zu machen und so ein neues "Airbus-Projekt" für die Informationstechnik zu begründen.

Derzeit läuft es dem Bericht zufolge genau andersrum. Ohne Ausschreibung handelten Behörden in Europa mit dem US-Konzern Rabatte aus und schlössen Rahmenverträge darüber ab. Denen könnten alle öffentlichen Körperschaften beitreten. In den folgenden Ausschreibungen suchten diese dann nur noch nach Händlern, die ihnen Microsoft-Lizenzen zu diesen Bedingungen verkaufen. Wettbewerb um diese öffentlichen Aufträge finde nicht statt.

Hierzulande habe das Bundesinnenministerium zuletzt 2015 neue "Konditionenverträge" mit Microsofts irischer Niederlassung vereinbart, über die das Unternehmen sein Europageschäft steuersparend abwickele. Das Beschaffungsamt des Ressorts habe binnen zehn Wochen aber nicht einmal einen Schätzwert der Ausgaben der Bundesbehörden für Microsoft-Lizenzen angeben können. In Europa habe Microsoft mit dem öffentlichen Sektor an die 2 Milliarden Euro Umsatz im Geschäftsjahr 2015/16 erzielt, schätzten die Markforscher von Pierre Audoin Consultants.

Das Verfahren laufe in etwa so, als wenn der Staat den Kauf von Autos nur unter Händlern von Volkswagen ausschreibe, kritisiert laut dem Netzwerk der niederländische Jurist Matthieu Paapst: Die Praxis, Microsoft-Produkte für die öffentliche Verwaltung ohne offene Ausschreibung zu beschaffen, breche das geltende EU-Recht. Eigentlich müsse die Kommission dagegen vorgehen. Dazu komme es jedoch nicht, weil sich die EU-Kommission selbst nicht daran halte. Das EU-Parlament forderte 2015, dass die EU und ihre Mitglieder stärker auf Open Source und offenen Quellcode setzen sollten. An die Empfehlung hält sich aber faktisch keiner.

Als jüngstes Beispiel für den "Lock-in-Effekt" von Microsoft mit all seinen Auswüchsen nennen die Autoren den vorgezeichneten radikalen Kurswechsel der Münchner Verwaltung weg vom eigens entwickelten LiMux-Client zurück zur "Standardsoftware" der Redmonder, obwohl es keine größeren technischen Probleme mit der freien Software gibt. Vor allem der mitregierenden CSU attestieren sie eine große Nähe zu dem US-Riesen. So sei etwa Dorothee Belz, Mitglied des Präsidiums des Wirtschaftsrates der CSU, bis 2015 bei Microsoft Europa für Rechtsfragen zuständig gewesen.

In Frankreich stehe derweil die Spitze der Gendarmerie unter "permanentem Druck", wieder in die Arme der Redmonder zurückzukehren. Seit 2005 habe die Polizei 72.000 Rechner auf Linux und mittlerweile LibreOffice umgestellt und damit bis 2014 rund 20 Millionen Euro eingespart. Nach wie vor werde um das Vorzeigeprojekt jedoch eine Art Religionskrieg geführt. (anw)